Von der Blumenzwiebel zum Spekulationsobjekt: Hendrick Pot malte "Floras Mallewagen" 1640 nach der Tulpenmanie
27. September 2008 Hätte es nicht vor Jahrhunderten – und seither immer wieder – Banken- und Börsenkräche gegeben, dann existierten Bankhäuser wie die Bardi, Peruzzi, Accaiuoli noch heute. Doch mit den großen toskanischen Finanzinstituten, die ab 1250 das Kapital der heimischen Tuchindustrie und die beträchtlichen Einkünfte der Päpste in ganz Europa auf den Markt brachten, ging irgendwann irgendetwas kolossal schief. Der Zusammenbruch der Bardi und Peruzzi etwa, der 1345 ganze Volkswirtschaften ruinierte, weist gar nicht so überraschende Übereinstimmungen mit den Investmentbankern von der Wall Street im fatalen Frühherbst 2008 auf. Die technischen Methoden, Geld kursieren zu lassen und dabei auf Schulden und Kurse zu wetten, mögen sich radikal gewandelt haben. Die Spieler in diesem ruinösen Wettbewerb handeln aber immer nach denselben Grundsätzen.
Warum die Bankenhäuser 1342 crashten
Auf den ersten Blick gleicht die computerisierte Hektik eines heutigen Brokerbüros in nichts einem gemütlichen Florentiner Kontor um 1300. Aber eine Bank wie das Haus Peruzzi erreichte zu ihrer Zeit staunenswerte Dimensionen und hielt die lebenswichtige Kommunikation über Zinsen, Ernten, Kriege, Thronwechsel, Preise in fünfzehn Kontoren von Rhodos bis London aufrecht. Rund hundert Angestellte machten für das alte Florentiner Stammhaus Geldgeschäfte in der ganzen bekannten Welt, schossen Kapital vor für den Transport von neapolitanischem Weizen in die oberitalienischen Industriestädte, finanzierten die Truppen des englischen Königs oder setzten mit Hilfe des Johanniterordens in Rhodos flämisches Tuch auf dem arabischen Markt ab. Die ungemeine Findigkeit und Beweglichkeit der mittelalterlichen Bankiers lassen sich an der Spannweite der Peruzzi, Bardi, Medici in Florenz, aber auch der Fugger- oder Humpis-Handelshäuser in Augsburg und Ravensburg bis heute detailliert ablesen; ihre erhaltenen Rechnungsbücher und Geschäftskorrespondenzen, ihre doppelte Buchführung, ihre Testamente und ihre privaten Rechtfertigungsschriften versorgen Generationen von Forschern immer noch mit Quellenmaterial.
Warum die Bankhäuser Peruzzi und Bardi 1342 genau crashten, darüber streiten sich die Historiker. Doch in groben Zügen scheint die Pleite rekonstruiert. Sie basierte auf einer ruinösen, das System sprengenden Gier, die über Leichen ging. Simpel gesagt, ließen sich die flüssigen Gelder im Spätmittelalter am schnellsten mehren, wenn die Bank einem Herrscher den Luxushaushalt finanzierte, um ihm dafür die Einkünfte aus Steuern und Zöllen, Bergwerken und Landgütern abzuluchsen, die der Potentat selber niemals optimiert hätte – und über deren Dimensionen er sich oft nicht einmal im Klaren war. So geschehen mit dem Geld der Florentiner, das in der Toskana im Tuchhandel zusammengekommen war und nun den englischen Königen Edward II. und III. Hofhaltung, Geschenke, Militär und Flotte finanzieren half. Die Toskaner fanden als geübte Controller wenig dabei, den britischen Wollexport für abgewertete Sterling in die Hände zu nehmen und sich den Import von Luxusgütern vom König als Monopol verbriefen zu lassen. England blutete aus, die Banken verdienten eine Weile lang prächtig, doch am Ende stand der König bei den Bardi und Peruzzi so tief in der Schuld, das seine und seines Landes Zahlungsunfähigkeit das Gebäude einstürzen ließen.
Ein Pilotspiel, bei dem die letzten Eingestiegenen stets die Zeche zahlen
Wie ein Krebsgeschwür den gesamten Organismus der Wirtschaft in die Hände zu bekommen, nach eigenem Plan arbeiten zu lassen und dann mit dem großen Ganzen unterzugehen – dergleichen Börsenmeldung der Abendnachrichten funktionierte auch beim Bankenboom in den oberitalienischen Städten nach 1300. Zeitweise schafften es die politisch aktiven Bänker, sich selbst komplett von Abgaben und Steuern zu befreien. In Florenz verlagerte man die ganze Last auf das umliegende Land, dessen Grundbesitzer und Bauern schließlich alles an die Bänker verkaufen mussten. Sackte danach zwangsläufig die Primärproduktion, etwa an Lebensmitteln, wichen die „global players“ des Mittelalters eben auf entlegenere Märkte in Flandern aus oder verdienten gut am Import von Getreide, dessen Ausfuhr sie dem klammen König von Neapel gegen flüssiges Geld günstig abgekauft hatten. Dass sie irgendwann mit dem Gemeinwesen, das sie nach Kräften ausweideten, untergehen würden, bedachten die findigsten Bankiers nicht – damals wie heute. Etliche Vorausschauende hatten sich gewöhnlich vorher in Grundbesitz oder gleich außer Landes geflüchtet.
Entscheidend für den kurzfristigen Erfolg – und langfristigen Zusammenbruch – kreativen Kapitaltransfers ist stets die Neuartigkeit des Produktes, auf welche die ahnungslose Restgesellschaft noch nicht reagieren kann. Heute ist es das Internet, damals konnten die Zunftmitglieder in den Räten oder die Grundbesitzer mit ihrem immergleichen Zyklus von Saat und Ernte dem schnellen Geld aus Wechselspekulationen rund um Mittelmeer und Nordsee nichts entgegensetzen. Es kam über sie wie ein Tsunami. Wie heute die Leerverkäufe oder der Handel mit faulen Obligationen waren die Wetten auf die Launen eines europäischen Potentaten oder auf Piraterie in der Ägäis letztlich nichts anderes als ein Pilotspiel, bei dem die letzten Eingestiegenen stets die Zeche zahlen. Bis solche suizidären Praktiken von einer Obrigkeit, wenn diese nicht ohnehin mit den Bänkern identisch war, verboten werden konnte, war es schon damals meist zu spät.
Geisel eines durchgeknallten und zu allem entschlossenen Finanzsektors
Der zweite Faktor, die planmäßige Expansion der Geschäfte in noch nicht infizierte Gegenden, erlaubt den Spekulanten meist, die Geschäfte auch dann in die Länge zu ziehen, wenn sie in der ausgeplünderten Heimat nicht mehr profitabel sind. Im Mittelalter wurden bereits die Kreuzzüge von Spekulanten, vorzugsweise in Venedig, aber auch in Frankreich, finanziert, wie der große, 1999 gestorbene Historiker Wolfgang von Stromer nachweisen konnte. Diese frühe Form der kolonialen Ausplünderung, der Profite über alles gehen, findet nicht erst in George W. Bushs und Rumsfelds Irak-Krieg eine Fortsetzung, dessen Kredite Amerika einen kurzen Boom bescherten. Stromer wies etwa nach, wie Nürnberger Bänker im Zusammenspiel mit den selbst betroffenen Toskanern Italien-Kriege deutscher Könige vorfinanzierten. Das Risiko solcher Operationen war zwar beträchtlich, doch in Zeiten billigen Geldes gab es anderswo in den trägen Feudalwirtschaften Europas einfach kaum Anlagemöglichkeiten. Stromers Hauptwerk „Oberdeutsche Hochfinanz“ zeigt mustergültig, wie sich die Praktiken fränkischer und schwäbischer Handelsgesellschaften ruinös auf unterentwickelte Volkswirtschaften in Böhmen und Ungarn auswirkten, wenn – lange vor der Erfindung des Weltwährungsfonds – die dortige Tuchindustrie kurzerhand monopolisiert wurde oder die Bänker als „Münzmeister“ die gesamte Liquidität der Slowakei lahmlegen und den dort Arbeitenden ihre Bedingungen aufzwingen konnten.
Solche planmäßige Abkopplung des Bankwesens von der Logik des alltäglichen Wirtschaftens kennt zahlreiche Beispiele. Im Spätmittelalter sehen die Historiker vor allem in der Einführung der Goldwährung eine solche Enteignung der Primärproduktion. Deren Geschäfte waren über Jahrhunderte mit Silbergeld abgewickelt worden, nun zwangen die Florentiner ihre Münze etwa dem englischen König auf – sonst gab es keinen Export und praktisch keine Staatseinnahmen mehr. Weil sich die Produktion bei knapper Goldwährung für lokale Lebensmittel und Manufakturen kaum mehr lohnte, verödeten ganze Landschaften in der Toskana, während die Gewinne der Bankhäuser einstweilen weiter stiegen. Auch hier ziehen sich die Linien zur vermeintlichen Weltmacht der Vereinigten Staaten, die zwar für Billionen Kriegsmaschinerie bereithalten und nach Bedarf weltweit verfeuern, aber daheim armen Kindern keine medizinische Versorgung und adäquate Schulen bieten können. Ein Gemeinwesen, das es nicht schafft, die Deiche von New Orleans abzudichten, aber eine Million mal eine Million Dollar für notleidende Börsenspekulanten im Handumdrehen der Allgemeinheit auflastet, muss man wohl als Geisel eines durchgeknallten und zu allem entschlossenen Finanzsektors betrachten.
Der Großkaufmann und Bänker Francesco di Marco Datini
Auch in der Toskana um 1340 lebten die großen Städte am Ende erbärmlich von den Krediten, welche ihnen die Bänker in den eigenen Mauern vorgeschossen hatten. Weil alle echten Einnahmen – Zölle, Münzprägung, Steuern, Ernten – längst an dieselben Kredithaie verpfändet waren, kam nicht einmal das florierende Florenz aus der Schuldenspirale heraus und war de facto bankrott. Erst der Zusammenbruch der abendländischen Gesellschaften durch die Pest, die übrigens nur durch den globalen Handel der Konsortien auf einem Getreideschiff von der Krim nach Mitteleuropa kommen konnte, mischte die Karten später neu – gelinde zugunsten der rar gewordenen Arbeiterklasse.
Das ruinöse Aussaugen der Schuldner, ob Stadtstaat oder Häuslebauer, mit denen die Banken schließlich untergehen und dann heuchlerisch Hilfe vom Gemeinwesen erflehen, ist aber nur ein wenn auch spannendes Kapitel im Roman des Kapitalismus. In die kleineren und traditionell wirtschaftenden Banken des Hanseraums etwa waren die Blutsaugerpraktiken der Florentiner noch nicht vorgedrungen, dort kam es 1340 zu keinem gesellschaftlichen Bankrott, wenn auch die Zielrichtung der dortigen Handelsoligarchien durchaus ähnlich war. Nicht optimierte und langsamere Techniken, also was man heute als „konservative“ Geschäftspraktiken bezeichnen würde, erweisen in Krisenzeiten also durchaus ihre Stärke.
Von Vorsicht wusste auch Francesco di Marco Datini einiges zu erzählen. Der Großkaufmann und Bänker aus Prato hat der Nachwelt nicht nur ein ganzes Archiv mit seiner Handelskorrespondenz aus der Zeit um 1400 hinterlassen, er macht uns auch bis heute vor, wie sich persönliche Habsucht und Ehrgeiz mit solidem Wirtschaften verbinden lässt. Einen Ausflug ins Bankwesen mit der verderblichen Wechselspekulation machte Datini nur kurz, ansonsten ertüftelte er ein kompliziertes Gebäude von Holdings, die von Barcelona bis Byzanz, von Flandern bis Sizilien reichten. Immer arbeitete der Mann, der nach 1380 kaum reiste, aber mit fünfzig Briefen pro Tag wie eine Spinne in seinem Handelsnetz saß, dabei mit persönlich bekannten Landsleuten zusammen, immer sorgte er für die Kapitalmehrheit in den von ihm gegründeten Gesellschaften, und immer streute er seine Risiken breit. Seine Sozialstiftung für Arme in Prato funktioniert noch heute.
Der Tulpenwahn als Urbild eines klassischen Börsenkrachs
Ohne gut katholische Handelsgenies wie Datini, der durchaus Max Webers Beobachtungen über die protestantische Ethik vorwegnimmt, hätte der Kapitalismus den Planeten nicht über Jahrhunderte dominiert und sich nach allen Krächen immer wieder aufgerappelt. Eine Medizin gegen den kurzfristigen Renditewahn oder gar eine bessere Wirtschaftsmethode als den einigermaßen freien Kapitalverkehr hat die Menschheit trotz mancher Versuche bisher nicht gefunden. Es geht wohl vor allem um das Kunststück, den Flaschengeist der „kreativen Zerstörung“ (Marx) freizulassen, ohne ihn komplett zu entfesseln.
Erst wenn alle Dämme der Vernunft brechen, richtet sich die Findigkeit des Kapitalmarktes gegen sich selbst. In jedem Proseminar Volkswirtschaftslehre wird daher der niederländische Tulpenwahn als Urbild eines klassischen Börsenkrachs angeführt. Nach 1630 in Holland kam kurzfristig alles zusammen: Ein neues, komplett nutzloses Produkt in Form der schönen Blume aus Vorderasien. Eine Menge Liquidität der wenigen Erben vieler Toter einer Pestepidemie, dazu noch einlaufendes Kapital aus Hollands wachsenden Kolonialgeschäften. Eine Laissez-faire-Politik des Staates, der in den Tulpenbörsen in Kneipen und Hinterhöfen anfangs nur einen Spleen von Nichtsnutzen sah. Auf dem Höhepunkt der Spekulationsblase, 1635, ging die legendäre Zwiebel einer „Semper Augustus“ in Haarlem für 6000 Gulden, den Preis eines prächtigen Grachtenhauses, über den Tresen. Andere Zwiebeln wurden mit Herden von Ochsen, Schafen, Schweinen und Wagenladungen Getreide aufgewogen, wieder andere Blumenbroker spekulierten in Futures: gerade gepflanzten Zwiebeln des kommenden Jahres oder Zuchten, die noch gar nicht geklappt hatten.
Nichts anderes als Hundekämpfe oder Lotterien
Den Kollaps, der zwangsläufig kommen musste und ein paar tausend „Floristen“ in den Ruin riss, hatten fromme Moralisten in mahnenden Pamphleten längst beklagt. Die Spottbriefe und die höhnenden Gemälde auf die Tulpenspekulanten, die für eine schmutzige, nach nichts schmeckende Zwiebel Haus und Hof verpfänden, sind Legion. Doch niemand wollte hinhören; kurzfristiger Gewinn ist allzeit eine teuflische Verlockung. Die Blase platzte, wie letzte Woche an der Wall Street, erst, als die Flut der Verkäufe einsetzte und plötzlich keine Nachfrage für das Irrsinnsprodukt mehr existierte. Die niederländischen Generalstaaten wollten geprellte Käufer anfangs wenigstens mit zehn, später mit mickrigen 3,5 Prozent des Vertragswertes entschädigt wissen, doch der reale Preis war längst weit darunter gesunken.
Interessant ist, wie die Ökonomie der Niederlande den Tulpenwahn verkraftete, nämlich überraschend gut. Die Manie war nie über einige reiche Kreise in Zentralholland und Utrecht hinausgekommen. Im Rest des Landes, der sich nicht hatte anstecken lassen, gab es keine Beeinträchtigung der tatsächlich florierenden Geschäfte. Und den Klägern unter den Börsenbrokern, die vom Staat Rechts- und Finanzhilfe forderten, kam das Gesetz der niederländischen Republik listig bei. Die Käufe, so beschied das Tribunal, seien in einem Fieber, also unter Bedingungen der Unzurechnungsfähigkeit, zustandegekommen. Ein solches Geschäft falle – nicht anders als Hundekämpfe oder Lotterien – unter die von keinem Recht geschützte Spielsucht. Brächten amerikanische Gerichte heute so viel pragmatische Weisheit auf?
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